Diesen Montag, genau 2o Jahre nach dem sogenannten Fall der Mauer (oder “Mauersturz” wie es im Schwedischen genannt wird) endet ein ganzes Jahr voller Erinnerungsveranstaltungen, mit extra dafür geschriebenen Büchern, mit Augenzeugeberichten, Ausstellungen und jetzt mit einer Reihe von Konzerten. Und diese Veranstaltungen werden sämtlichst an historischen Orten stattfinden: Auf dem Platz vor dem Reichstag, am Brandeburger Tor und auf dem Potzdamer Platz. Natürlich mit einem Feuerwerk, und mit prominenten Rednern wie Michael Gorbachov und Hans-Dietrich Genscher, mit Rockmusik und der Staatskapelle Berlin unter seinem Dirigenten Daniel Barenboim. Aber es wird auch Veranstaltungen mit einem gewissen Witz geben, wie zum Beispiel eine anderthalb kilometer lange Mauer aus bunten Dominosteinen, die dann ebenfalls umgestossem werden wird, fast so wie es mit der richtigen Berliner Mauer geschah. Das wird voraussichtlich bei allen echten Berlinern grossen Jubel auslösen.
Denkt dann wirklich noch jemand, dass das alte Westberlin irgendwie interessanter war mit seinen Agenten und seinen Künstlern, oder dass die frühere DDR tatsächlich idyllischer und schöner war, mit seinen Plattenbauten und seinen Trabantenstädten ? Gibt es noch jemanden, der sich die Schüsse an der Mauer und versteckte Mikrophone zurück wünscht ?
In den Tagen während dieser Feierlichkeiten wohne ich in einer grosszügigen Etagenwohnung in Schöneberg, deren hohe Räume einen ähnlich hallende Akustik haben wie das Stockwerk, in dem ich nur 500 meter entfernt im November 1972 wohnte. Dort war ich ständig mit Schreiben beschäftigt und dort entstanden meine beiden Bücher “Yllet” und “Sigismund”. Der einzige Unterschied ist der grosse Park hier gegenüber, der jetzt in den schönsten Herbstfarben erstrahlt. Und die fast ausserirdische Kälte, nicht zu vergessen.
Dieses Berlin des Jahres 2009 ist eine fast völlig veränderte Stadt. Und von vielen Berlinern hört man, dass sie selber das Gefühl verspüren als wären sie von einer Stadt in eine andere umgezogen, ohne sich selbst wirklich fortbewegt zu haben.
Besucher aus Schweden, die in den70er Jahren aus Ostberlin zurückkehrten, waren oft voller Begeisterung. Egal ob Seeleute oder Kirchen-Mitarbeiter, sie alle brachten scheinbar neue Ideen von dort mit. So übernahmen wir aus Ostberlin zum Beispiel die Idee der “Einheitsschule” (schwedisch “Einhetsskola”). Und vom Theater am Schiffbauerdamm kamen neue Impulse von den Aufführungen der Stücke von Brecht.
Wenn man sich jetzt die Reste der Mauer auf den Zeitungsbildern anschaut, wirkt das ja sehr pitoresque mit all den Graffities, als wäre die Mauer in erster Linie als eine riesige Freifläche für künstlerische Experimente errichtet worden.
Zu leicht vergisst man dabei, dass es hinter der für uns immer bunt bemalten Vorderseite auch eine Rückseite gab, die nur grau war und die zusammen mit einem Mienenstreifen und Selbstschussanlagen eine absolut tödliche Zone darstellte, verziert mit Stacheldraht and Scheinwerfer-Anlagen. Das war die eigentliche Mauer, und diese richtete sich, einmalig in der Welt, nicht gegen eine Bedrohung von Aussen, sondern zielte nach Innen, auf seine eigenen Bewohner.
Die Selbstschuss-Anlagen, wahrscheinlich ein Begriff der wegen seiner
Abstrusität nur in wenige fremde Sprachen übersetzt werden musste, waren geschickt konstruierte Geräte, die an Pfosten entlang des Grenzstreifens angebracht waren und durch elektrische Kontakte ausgelöst auf einen Grenzflüchtlig eine tödliche Salve von Schrottschüssen abgeben konnte. Diese Anlagen arbeiteten nicht nur äusserst “effizient” 24 stunden am Tag ohne erkennbare Ermüdunsgerscheinungen, sondern sie befreiten auch das Grenzpersonal von der unliebsamen Pflicht, selber einem Schiessbefehl Folge leisten zu müssen.
Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens irgendwann im November 1972 in der Feiherr-von-Stein Strasse zu Frühstück ein Buch las und miterlebte, wie zwei junge Leute in dem Wasserlauf entlang der Grenze ertranken, nachdem sie auf ihrer Flucht durchs Wasser von tödlichen Schüssen der Grenzer getroffen wurden, und wie die Westberliner Feuerwehr untätig zuschauen musste, weil es ihr nicht erlaubt war, mit dem Schlauchboot auf das Grenzgewässer hinaus zu fahren um die Verletzten zu retten.
Am Grenzübergang Friedrichstrasse gab es immer beleidigende Situationen, wenn die Grenzpolizisten erst unter dem Zug alles mit Spiegeln und Lampen an langen Stäben absuchten um sich dann dem Inneren unserer Koffer zuzuwenden, in denen ja verbotene Bücher wie F.Nietzsche versteckt sein könnten. Mich würde sehr interessieren, wie meine jungen Mitstreiter in der schwedischen Piratenpartei sich wohl damals verhalten hätten.
Nachdem dann diese Mauer gefallen war, kamen viele Geheimnisse ans Licht, die vorher unverständliche Ereignisse plötzlich durchschaubar machten. So weiss man jetzt, dass der Polizist, der den Studenten Benno Ohnesorg während einer Anti-Schah Demonstration erschoss, in Wirklichkeit ein bezahlter Mörder des Ostens war. Westdeutsche Terroristen bekamen Unterstützung von staatlichen Stellen der DDR und Schriftsteller schrieben mehr Spitzelberichte als Belletristik.
Kurz und gut, der Fall der Berliner Mauer war ein gewaltiger Sieg der Freiheit, und wie der Paukenschlag in der Ouverture Leonora 3 zu Beethovens Fidelio, beendete er ein langes und sehr schmerzhaftes Ringen um Selbstbestimmung, das nicht in Deutschland, sondern bereits 10 Jahre früher in Polen, Ungarn und der Tschechoslovakei begonnen hatte.
wenn am Abend des 9. November die grosse Party am Brandenburger Tor beginnt, ist eine endgültige Bewertung dieses Umbruchs aber immer noch schwer zu erhalten. Soll man wie Tenger sagen. “Die Wahrheit setzt sich durch” ? Oder es eher mit Hans Magnus Enzensberger halten und seinem “Der Sozialismus funktioniert nicht. Punkt. Aus.” ?
Lars Gustafsson, 09-11-2009, 12:43
(english translation A.F.
german translation M.R.)